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Lese- Rechtschreib Vortragsvorab 05.05.2007

Lese- Rechtschreibstörung (LRS)

 – verstehen – verhindern – korrigieren

 

Kurz-Inhalt:

Eine Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) besteht im Kern aus einem oder mehreren ungünstigen Abläufen des Lese- oder Schreibprozesses (unbewussten Automatisierungen), die sich – je früher man sie bemerkt, desto leichter – korrigieren lassen.

Die vorgestellte LRS-Korrektur-Methode ist eine Synthese aus bekannten und unbekannten Elementen, verknüpft mit eigenen auf sprechwissenschaftlicher Basis entwickelten Arbeitsweisen, die ohne biologische oder psychologische Defiziterklärungen auskommt, und – ähnlich einer Sprechfehlerkorrektur – schnell nachhaltige Veränderungen in Gang setzt.

Inhalt

Eine Lese-Rechtschreib-Störung kommt nach meiner Ansicht wie eine Sprechstörung (bspw. Sigmatismus/ Lispeln) durch einen ungünstig automatisierten Ablauf im Gehirn zustande. Der Lese- oder Schreibprozesses verläuft an einer oder mehreren Stellen nicht so, wie er eigentlich sein sollte. Durch den unbewussten und automatisierten Ablauf sind die Steuerungsmöglichkeiten des betroffenen Kindes stark eingeschränkt. Es kann sich nicht mehr selbst aus diesem Ablauf befreien und braucht Hilfe von außen.

 

1. Ungünstig automatisierte Verknüpfung zu schreibender Wörter an den Hör-Sinn

Die am häufigsten anzutreffende Störung entsteht durch die ungünstig automatisierte Verknüpfung der zu schreibenden Worte an den Hör-Sinn.
Der Mensch hat nur fünf Sinne zur Verfügung. Alles was er sich merken will, muss zunächst an einen der fünf Sinne angehängt werden und wird auch über diesen Sinn primär wieder abgerufen. Das größte Problem bei Kindern mit LRS ist, dass sie die Erinnerung an die korrekte Schreibweise der Wörter an den Hör-Sinn anhängen. Weitaus günstiger und im Prinzip die einzig sichere Methode ist jedoch, die Wörter an den Seh-Sinn anzuhängen. Wörter, von denen man weiß, wie sie aussehen, kann man auch zweifelsfrei schreiben.  Die Tendenz des Grundschulunterrichts, zunächst so genannte „lautgetreue Wörter“ zu vermitteln und andere Schreibweisen durch Regeln zu erklären, ebenso die in letzter Zeit betonte Konzentration auf die „Phonologische Bewusstheit“, kann auf Dauer nicht funktionieren, da wir, obwohl wir eine Lautsprache haben, trotzdem nicht schreiben, wie wir sprechen. Leider sind sich aber die meisten Menschen, einschließlich der Deutschlehrer, der Tatsache, dass unsere Buchstaben nicht den Lauten entsprechen, zu wenig bewusst. Als einfaches Beispiel möge das Wort Zebra dienen. Rein nach dem Lautbestand könnte das Wort bei gleichbleibender Lautschrift (          ) ebenso auf die folgenden Weisen geschrieben werden: Cebra, Tsehbra, Zeebraa, Zeebrah, Tsebra, Cebraa, Zehbrah, Tsebrah, Zebrah, Cehbra, ließe man leichte Varianten in der Lautung zu, so wären weitere Versionen denkbar, wie: Tsebrer, Zehbrer, Zebrer oder Cepra, Tsehprah, Zeepra. Ohne hier bereits alle denkbaren Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben, ist leicht zu erkennen, dass sich einem Kind, welches sich nur an den Lauten orientiert, diese versucht abzuhören und in Buchstaben umzusetzen, eine Vielzahl an Möglichkeiten bietet, das Wort falsch, im Sinne von ‚so nicht vereinbart’ zu schreiben. Die einzige wirkliche Sicherheit bietet das Wissen darum, wie das Wort tatsächlich aussieht. Wenn man weiß, wie das Wort aussieht, braucht man sich um die genaue Aussprache und das genaue Abhören nicht mehr zu kümmern, man weiß einfach, wie das Wort geschrieben wird, selbst wenn der Sprecher das Wort ‚Zebra’ im Dialekt (z. B. tsebro) ausspricht. Eine sichere Beherrschung der korrekten Rechtschreibung ist nur durch Verknüpfung der Wörter mit dem Seh-Sinn zu erreichen.

2. Ungünstig automatisierte Verknüpfung in der Reihenfolge der am Schreibprozess beteiligten Sinnesvorgänge

Für die fortlaufende Produktion von korrekt geschriebenen Wörtern in Hausaufgaben und Aufsätzen ist es zum Zweiten wichtig, in welcher Reihenfolge die verschiedenen am Schreibprozess beteiligten Sinnesvorgänge ablaufen. Im Wesentlichen sind dies vier verschiedene Spuren, die miteinander koordiniert werden müssen, um einen reibungslosen Schreibablauf zu erhalten:

  1. der Film (bildhafte Vorstellung des Inhalts, über den ich beschreiben möchte)
  2. die Hör-Spur  (lautliche Vorstellung dessen, was ich schreiben will)
  3. die Seh-Spur (Wortbilder-Spur der zu schreibenden Wörter)
  4. die Bewegung (Handbewegung beim Schreiben)

 

Für das Schreiben besteht die ideale Reihenfolge in folgendem kontinuierlich sich abwickelnden Ablauf: inneres Sehen / Filmà inneres Hörenà inneres Sehen/Wortà Bewegung  (à evtl. Kontrolle durch innere Bewegung u. äußeres Sehen/Wort)

Bei Kindern mit LRS-Problemen ist der Ablauf fast immer ungünstig automatisiert. Am häufigsten anzutreffen ist das Fehlen der dritten Spur. Wie oben dargestellt, versuchen die Kinder die zu schreibenden Wörter aus dem Hör-Gedächtnis abzurufen und zwar ohne visuelle Kontrolle durch die Seh-Wörter-Spur. So geschriebene Wörter sind an der vom Kind so gut wie möglich abgehörten Aussprache orientiert. So können, je nach Hör-Vermögen und Aussprache des Kindes, nur wenige Buchstaben, beispielsweise Hs (Ha- se  – wir sagen nicht Hasé), oder fast richtig gehörte bzw. gesprochene Wörter zustande kommen: Gedächnis (wir sprechen das t meist regelwidrig nicht aus). Oder es ist möglich, dass sogar von der Lautschrift aus betrachtet der Lautbestand treffend wiedergeben werden z. B.: frointlich (freundlich)  (              ).

Zu LRS-Problemen führt es außerdem, wenn die vierte Spur (Bewegung) im Verhältnis zur dritten Spur (Wörter-Sehen) zu früh abläuft. Die Hand schreibt dann das Wort bevor das Wort visuell abgerufen wurde. Dies führt zu vielen Verschreibungen, Problemen mit der Groß- und Kleinschreibung und so genannten Flüchtigkeitsfehlern.

 

 

3. Ungünstig automatisierte Verknüpfung in der Reihenfolge der am Leseprozess beteiligten Sinnesvorgänge

Einer Lese-Störung liegt meist ebenfalls eine ungünstige Automatisierung beim Leseablauf zugrunde.

Beim Lesen ist die ideale Reihenfolge

  1. die Bewegung (Augenbewegung über die Wörter)
  2. die Seh-Spur (Silben und Wortbilder)
  3. die Hör-Spur (innerer Klang der Worte, einschließlich der Betonung und Klangfarben)
  4. Film (bildhafte inhaltliche Vorstellung dessen, was mir die Buchstaben sagen wollen)

Kinder mit LRS haben oft ungünstige Augenbewegungsmuster, so genannte „Blicksprünge“, was in der Literatur auch hinreichend bekannt ist. Um (unbekannte) Wörter korrekt zu lesen, müssen die Augen jedoch sukzessive kontinuierlich von Buchstabe zu Buchstabe bewegt werden können. Diese Fähigkeit ist ebenfalls nötig, um geschriebene Wörter zu kontrollieren. Einen Lese-Störung kann außerdem durch eine allgemein gestörte oder schwach ausgebildete Seh-Spur zustande kommen. Das Kind nimmt dann beim Hinschauen nicht genügend Informationen auf, schaut nicht genau genug hin und verwechselt daher ähnlich aussehende Buchstaben wie t’ und ‚l’ oder ‚d’ und ‚b’. Eine weitere Lese-Störung besteht im Nicht- Aufbauen oder Nicht-Abrufen der Wörter-Spur. Das Kind bleibt im artikulatorischen Lesen verhaftet und lautiert jedes Wort neu zusammen. Infolgedessen kann es auch keine korrekten Wörter schreiben. Eine Lese-Störung liegt meiner Meinung nach auch vor, wenn kein innerer Film zustande kommt. Einem Kind, das keine Klangvorstellung vom und keine inneren Bilder vom Gelesenen erstellen kann, macht, da es keinen Sinn entnehmen kann, Lesen keinen Spaß. Über diese Lese-Störung wird so gut wie nie unter der Überschrift ‚Lese-Störung’ berichtet. Viele Lehrkräfte sind zu früh zufrieden mit der Leseleistung, selten werden Kinder planvoll dazu angeregt, vorausschauend und Sinn wiedergebend zu lesen. Beispielsweise lesen selbst Oberstufenschüler Märchen und Gedichte ,statt im Erzählton, in neutralem unberührten Tonfall, der nur für Sachtexte passend ist.

Prinzipiell kann jede der vier Spuren in sich selbst oder die verschiedenen Spuren in ihrem idealen Ablauf untereinander gestört sein.

 

4. Korrektur der LRS durch De- und Neu-Automatisierung der Lese- und Schreibabläufe

Eine LRS kann korrigiert werden. Je früher man die ungünstigen Automatisierungen korrigiert, desto schneller normalisiert sich das Lese- und Schreibverhalten.
Die Korrektur braucht je nach Umfang der Störung und je nach Lern-Struktur und Alter des Kindes nur wenige Treffen bzw. Trainingseinheiten bis zu einer Betreuung über ein bis zwei Jahre.
Wenn an der richtigen Stelle Korrekturen angebracht werden, spürt das Kind in der Regel sofort, dass ihm das Training hilft und dass es die Steuerungsmöglichkeiten, die es durch die unbewusste Automatisierung verloren hatte, zurückgewinnt. Rechtschreibunterricht und Rechtschreib-Programme, die jahrelanges Durchhalten von umständlichen Übungseinheiten trotz fehlender Motivation und fehlendem Erfolg beschwören, sind meiner Meinung nach vollkommen auf dem falschen Weg. Sie schaden den Kindern, indem sie zu neurotischem Verhalten führen, was in der Fachliteratur hinreichend beschrieben wurde.

Um eine LRS zu korrigieren, muss man nicht in erster Linie – wie bislang üblich –  die gemachten Fehler analysieren, sondern den jeweiligen Lese- und Schreibablauf des Kindes. Nach der Analyse des Schreibablaufs wird genau an der richtigen Stelle eine Korrektur angesetzt, eine Übungsphase durchgeführt und anschließend der Ablauf bis zur Neu-Automatisierung kontrolliert. Viele Kinder können, sobald sie verstanden haben, worauf es ankommt, die Übungsphase auch nahezu selbstständig durchführen. Das Ziel der LRS-Korrektur ist die Erlangung größerer Sicherheit im Rechtschreibverhalten.

Lehrkräfte brauchen genauere Kenntnisse des korrekten Schreibablaufs, damit sie den Kindern möglichst frühzeitig korrigierende Hinweise und Übungen anbieten können. Aus Lehrbüchern und Arbeitsblättern müssen Verwirrspiele und Rate-Strategien im Zusammenhang mit Rechtschreibung verbannt werden. Die Überbetonung der ‚Phonologischen Bewusstheit’, sowie weiterer akustischer Rechtschreibstrategien muss zurückgenommen, und zumindest um Strategien der ‚visuellen Bewusstheit’ ausdrücklich erweitert werden. Die Stärkung visueller innerer Bilder sollte mehr Gewicht erhalten. Zeichnen, Malen und andere visuelle Übungen dürfen als wesentliches Element im Grundschulunterricht nicht fehlen.

Nur passende und konkrete innere Bilder führen zum Textverständnis.
Nur korrekte innere Wortbilder führen zu korrekten Schriftbildern.